Dieses »Wort zum Sonntag« hielt Jörg Zink am 14. Oktober 1977. Terroristen hatten die Lufthansa-Maschine »Landshut« nach Somalia entführt und drohten mit der Erschießung aller Geiseln am folgenden Morgen.
In dieser Nacht werden wohl Entscheidungen fallen, die, wie immer sie lauten mögen, lange, schwere Schatten in die Zukunft werfen. In der Anfangszeit dieses Entführungsfalls fiel im Bundestag das Wort, es komme darauf an, nichts zu versäumen und nichts zu verschulden. Diese Formulierung hat mich seitdem begleitet; denn sie ist gut; sie beschreibt die Spannung zwischen Entschlossenheit und Beharrungsvermögen, die uns nottut. Nichts versäumen und nichts verschulden.
Das Schreckliche ist, dass es dahin keinen Weg gibt. Niemand kann so viel tun, dass er nicht noch Entscheidendes versäumte. Und niemand kann so gründlich nachdenken, dass er nicht noch Schweres verschulden könnte. Das ist Menschenschicksal; niemand ist davon ausgenommen. Niemand. Auch die Verantwortlichen an der Spitze des Staates nicht, die nun seit sechs Wochen ihre furchtbare Verantwortung tragen. Es kann keine Lösung geben, die ohne Rest aufgeht. Sie ist in jedem Fall richtig und falsch zugleich.
Was aber soll ein Verantwortlicher tun, der weiß, dass er so oder so mit Versäumnis und Schuld wird leben müssen? Es bringt nichts, zu sagen: Ich habe alles getan, und es war alles richtig. Und es bringt auch nichts, die Schuld am Verhängnis irgendwelchen linken oder rechten Gegnern zuzuschieben. Denn jeder, der hier zu entscheiden hat, steht vor demselben Abgrund. Es gibt unter Christen einen Weg, Verantwortungen dieser Art durchzuhalten. Freilich nur so, dass der Verantwortliche sein schicksalhaftes Teil Schuld nicht verharmlost. Was in solcher Verantwortung über Leben und Tod von Menschen getan wird, entscheidet sich unter Christen zuerst vor Gott und dann erst vor Menschen. Ein Konflikt dieser Art wird in der Einsamkeit vor Gott durchgestanden und nicht in der Öffentlichkeit. Versäumen und Verschulden werden zuerst vor Gott ausgelitten und dann erst vor Menschen diskutiert. Und das ist nun der Kern des christlichen Glaubens, dass Gott den, der so vor ihm steht, nicht verurteilt. Dass er ihm heute die Last seines Versagens abnimmt und ihm morgen seine Verantwortung wieder anvertraut. Wir sprechen von Vergebung der Schuld. Wir meinen keine Schnellreinigung des Gewissens, sondern eine unter Leiden geschehene Befreiung. Und diese Befreiung ist der Anfang für ein Leben in Verantwortung vor Gott und den Menschen. Am Ende wird einer nicht sagen: Es war alles richtig. Sondern vielleicht eher: Das habe ich entschieden. Dazu stehe ich. Gott helfe mir.
Wir wissen, dass in den nächsten Stunden mehr auf dem Spiel steht als das Schicksal der bedrohten Menschen. Die Entscheidung dieser Nacht ist von einer Abgründigkeit, die noch niemand auslotet.
Ich bitte heute Abend für die Verantwortlichen. Ich bitte für die Bedrohten. Und ich bitte Gott um sein Erbarmen mit uns, dieser verwirrten, kranken Menschheit, die wir nicht mehr wissen, wie wir uns vor dem Abgrund der Selbstzerstörung retten.
Es klingt heute Abend fast kindlich, wenn jemand die Bitte um Frieden in den Mund nimmt. Und ich bitte trotzdem für alle Beteiligten um einen Hauch jenes Friedens, der unsere Menschenvernunft übersteigt. Was sollte uns noch helfen, wenn nicht eine Kraft, die die gefährdete Vernunft der Menschheit übersteigt und umfasst. Ich denke an die Schlaflosigkeit der Bedrohten und die Schlaflosigkeit der Verantwortlichen und erbitte von Ihnen, meine verehrten Damen und Herren, die Wachsamkeit des Herzens, die beide von uns brauchen.
Und der Friede, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.